Die Pandemie beginnt

Im Februar 2020. 

Alles war gut. In China hatten sie mal wieder ein Virus, das sich von den Fledermäusen, die sie dort ja verspeisen, auf den Menschen übertragen hatte und in der Stadt Wuhan zu wüten begann. Weit weg, und wie immer: Die Chinesen! 

Am 22. 2. Dann das letzte grosse Fest für lange Zeit (wir wussten es nur noch nicht), die Hochzeit von Sophie Hürny in Horgen, bei schönstem Frühlingswetter.

Männiglich geniesst den Frühling.

Es weht zwar eine eiskalte Bise bei uns, es hat sogar ein wenig geschneit, und dennoch spürt man den Frühling in allen Poren. Man möchte gerne in den Garten (bei uns nur noch Terrasse, aber gross!), aber es ist halt einfach noch zu früh. Ich weiss eigentlich auch nicht, weshalb ich dieses Jahr so früh dran bin, früher war ich – auch in Collorgues – nicht so ungeduldig, ich konnte Theres immer sagen: „Warten wir noch eine Woche, die Vegetation ist noch nicht bereit, wir gehen nur das Risiko ein, dass die Pflanzen  zu kalt oder zu trocken haben, noch nicht aus dem Winterschlaf erwacht sind, und darum nicht anwachsen werden.“ Das hat mir jedenfalls meine Mutter, passionierte Gärtnerin und Tochter eines Gärtners, immer wieder gesagt. Aber ich bin ungeduldig in diesem Jahr, das hat wohl mit dem Zwang zur Untätigkeit zu tun.

Doch gegen Ende Februar wird die Lage angespannt. In Italien sterben die Menschen, in Bergamo spielt sich ein Drama ab. Bei uns jedoch herrscht schönes Wetter, der Winter ist weit weg, das Virus auch. Wir feiern den Geburtstag von Enkel Jonas mit den üblichen Verdächtigen und schimpfen über das Corona-Gstürm.

Anfang März 20

Wir fahren Ski in St. Stephan. Alles sonnig, mild und weiss. Chäbu fliegt mit der Familie nach London. Aber dann, ab dem 7. März, beginnt es, ernst zu werden. Die Welt hält den Atem an. Die Börsen stürzen ab. Man redet von der grössten Krise seit den dreissiger Jahren, die uns treffen könnte. Nur noch Trump und Bolsonaro sprechen von einer harmlosen Grippe.

Am 9.3. muss die New Yorker Börse den Handel einstellen. Ich finde das alles übertrieben und nerve mich sehr.

Corona wird zum Blindflug.

13.3.2020

An diesem Tag ist es soweit: Die Schweiz verkündet die besondere Lage und beschliesst den totalen Lockdown. Alles geht zu, nicht dringende ärztliche Behandlungen werden verboten (auch meine neue Linse)

Nun, auch bei uns gibt es keine Märkte mehr, alles, was nicht „Lebensmittel“ verkauft und mindestens 10 Quadratmeter Verkaufsfläche pro Person hat, ist zu. Und was offen ist, jammert, weil niemand kommt: Ärzte, Zahnärzte, Physiotherapeuten langweilen sich in ihren leeren Praxen. Was paradox ist: Wieso werden so viel weniger Menschen „krank“ in diesen Zeiten? Flüstert mir ein Teufelchen ein, dieses Wort „krank“ in Anführungs- und Schlusszeichen zu setzen? Geht’s eben auch ohne Physio? Muss man immer gleich zum Doktor? Ja, in der Krise gibt es auch Dinge, die wohl später noch genauer untersucht werden müssen!

Unterdessen bringen sich die politischen Player langsam in neue Positionen. Nachdem sie ausgiebig darüber geschimpft haben, dass der Bund sich nicht ausreichend auf die Krise vorbereitet hat, beschwert man sich jetzt über die getroffenen Massnahmen und verlangt deren baldiges Ende in Schutzmasken – nein Spass beiseite, das Leben soll wieder normal werden, aber dafür sollen dann alle Masken tragen. Ha! Geh mal mit Maske in eine Beiz zum Essen…

Die, die am lautesten motzen bei uns, haben aber ihre Buden gar nicht zu, das sind die grossen Industriellen; die Kleinen, die unter dem Lockdown fast zusammenbrechen, bekommen bestenfalls ein kurzes feature im Lokalradio, wo man sie gebührend bedauert, und vielleicht einen Übergangskredit vom Bund.

Doch: Auch ich bin entsetzt über die unprofessionelle, ja oft fast hilflose Art und Weise, wie unsere Notstandsregierung kommuniziert. Man merkt schon, dass die Situation, in der sie sich befindet, (zum Glück) nicht alltäglich ist in unseren Breiten. Aber da haben doch unsere Bundesräte in den letzten Jahren haufenweise die besten Moderatoren unseres Staatsradios SRF abgeworben. Und dann zum Beispiel das: 

„Einmal Masken nein, einmal Masken ja, aber zu wenige, einmal Masken nützen nichts, einmal Masken nützen gut, einmal jetzt hat es genug Masken, aber im Alltag braucht man sie nicht…. Die Statistiken sind halt nicht so genau, die Kantone melden halt nicht alle Fälle bei uns. Ja, es wird noch lange dauern, es braucht jetzt halt Geduld, nein, wir haben noch keinen Plan, uns fehlen die Teströhrchen, wir können nicht alle Leute testen. Ich weiss nicht genau, wie viele Leute krank sind, nein, wir wissen nicht wie die Statistik der Todesfälle aussieht – dies vom Bundesamt für Gesundheit, gleichentags veröffentlichen die TA-Medien eine Statistik, die sie bei den Kantonen erfragt haben! Das Bundesamt erfragt seine Angaben für die eigene Statistik PER FAX!!! 2020!! Und die getrauen sich, dies öffentlich zuzugeben!“

Gerade höre ich im Radio, dass auch in Frankreich über die mangelnde Vorbereitung auf eine Pandemie gestritten wird – aber meine Güte, wer hätte sich sowas denn träumen lassen? Und worin waren sich die Parlamente aller europäischen Staaten, von links bis rechts, von Nord bis Süd, von direkter Demokratie bis autokratisches Regime, einig: Das Gesundheitswesen in den westlichen Staaten ist zu teuer, zu luxuriös, die Grundversorgungskataloge sind zu kürzen, Spitalbetten abzubauen, Medikamentenlisten rigoros zu auszudünnen. Bei uns zum Beispiel ging bereits 2017/18 aus einem Bericht über die Pandemievorbereitung in der Schweiz hervor, dass für eine Pandemiebewältigung unter vielem anderen auch rund 4500 Spitalbetten fehlen würden: Auf den Bericht ging die Exekutive gar nicht ein, wie auch, die Regierungen auf allen Ebenen wären von den entsprechenden Parlamenten als Spinner gebrandmarkt worden, als Verschwender, als Träumer.

Im Moment scheint die Diskussion bei uns zu kippen: Man beginnt sich zu fragen, was schlimmere Folgen habe: Die Krankheit oder die Behandlung.

Als Gesundheitspolitiker, der ich vor gefühlt hundert Jahren war, habe ich als Präsident des schweizerischen Laborleiterverbandes zusammen mit den entsprechenden Fachgesellschaften und den Kostenträgern in einer Arbeitsgruppe im Auftrag unserer damaligen Gesundheitsministerin die Liste der in der Grundversicherung enthaltenen Laboranalysen überarbeiten müssen. Projektgrundlage hiess „WWZ“: Die Liste ist unter den Gesichtspunkten „wirksam – wirtschaftlich – zweckmässig“ zu analysieren und zu revidieren. 

Gut, in einer Notlage gilt nur das erste „W“: wirksam. Aber dann sollten eben auch die beiden restlichen Parameter berücksichtigt werden. 

Die Diskussionen laufen heiss

Die Politiker beginnen, sich anzugeifern. Man sucht und findet Vorwürfe, Berichte, die besagen, man hätte schon vor Jahren Betten, Masken und Schutzkleider einlagern müssen. Die Presse findet heraus, dass man vor zwei Jahren 10’000 Liter Alkohol ins Ausland verkauft hat, aus dem man jetzt Desinfektionsmittel herstellen könnte…

Aber was soll’s? Ich habe einen Kommentar auf einen dieser Artikel (Bund) geschrieben:

Zusammengefasst: Alles der Sparwut zum Opfer gefallen. Niemand ist schuld: Stimmt nicht, wir alle sind schuld. Unsere Art zu leben, unser Drang nach individueller Lebensgestaltung, unsere Überzeugung, dass alles machbar ist, auch die Klimakrise beherrschen (wenn es dann ernst wird, machen wir schon etwas), die Pandemien abwettern (man kann ja alles kaufen wenn’s brennt). Wer unter uns, ausser ein paar Übervorsichtigen, hätte vor zwei, drei Jahren nicht „spinnen die“ gerufen, wenn die Medien verbreitet hätten, dass die Regierung 4200 Reserve-Spitalbetten für eine Pandemie bereitstellt, und wer hätte es nicht einen Irrsinn gefunden, 400 Millionen Masken einzulagern, bitte schön? Man nehme sich selber an der Nase und lerne dazu. Zum Lernen ist es nie zu spät. Und – es sind eben nicht immer die Anderen oder das System schuld. Die Anderen sind wir alle!

Und weiter (zum Thema: „Katastrophenrucksack packen“):

Nur als Gedankenspiel: Wir haben heute eine Gesundheits- und Wirtschaftskrise. Dass sie sich so katastrophal erweist, hat aber NICHTS mit der vergangenen Vorbereitung zur Pandemiebewältigung zu tun. Wir waren letztlich recht gut vorbereitet, das sage ich, obwohl ich vor ein paar Wochen noch sehr skeptisch war. Um eine Pandemie zu bewältigen, braucht es ausserordentliche Anstrengungen, das ist selbstverständlich. (Zu)viel Arbeit für Wenige, zum Teil extreme Einschränkungen im Alltag für fast alle. Das haben wir geschafft, schaffen es und werden es schaffen. Davon bin ich überzeugt. Doch, wie Herr Seemann weiter unten sagt: „Am besten vorbereitet ist man auf die vorherige Krise.“ Packt man also den Rucksack so, wie oben beschrieben, wird man zwar auf die nächste Epi- oder Pandemie (noch) besser vorbereitet sein, als auf die gegenwärtige; sicher wird es genügend Masken haben, aber sonst hat uns es uns ja eigentlich an nichts gefehlt, wir hatten nur Angst, dass etwas fehlen könnte. Darum: Ich packe in meinen Rucksack, statt Spitalbetten und Beatmungsgeräten, die Ideen z.B. zu einer nachhaltigen Wirtschaft, die auch für Klein(st)betriebe gewisse Reserven für eine Krisenbewältigung bietet und/oder verlangt, zum Eindämmen des Verkehrs (für alle fossil betriebenen Verkehrsmittel), zur wirtschaftlichen und sozialen Unterstützung der ärmsten Länder zur Verhinderung der Migrationstragik, zu Bildung, Weiterbildung und Lohnpolitik, damit wir in heiklen Berufen nicht mehr dermassen abhängig vom Ausland sind, zur Formulierung und Einhaltung verbindlicher Klimaziele…. Denn: Wer wagt es schon zu prophezeien, was uns die nächste Krise bringen wird: Pandemie? Epidemie? Finanzkrise? Wirtschaftskrise? Krieg? Klimakatastrophe? Ja, was? Es ist schlicht unmöglich, auf alles vorbereitet zu sein. Wir müssen uns also darauf vorbereiten, in gewissem Masse unvorbereitet zu bleiben, ein gewisses Risiko akzeptieren zu müssen. Wir haben uns zu sehr daran gewöhnt, uns für alle Eventualitäten vorzubereiten oder zumindest zu versichern. Corona zeigt, dass dies unmöglich ist – dass wir aber durchaus die Fähigkeit haben, solche Lagen ad hoc zu meistern. Auch das in den Rucksack.

Man muss sich nun an einiges gewöhnen. Wir gehören ja zu den „ü65“, den besonders gefährdeten Personen. Also werden wir von unseren Jungen bedient. Sie gehen für uns einkaufen, sie laden alles an der Türe ab, sie schauen, ob es uns gut geht: Es ist alles noch so neu, so ungewiss. 

Und trotzdem: Die Jungen tun mir leid! Ihre Resilienz und Risikotoleranz sind bescheiden! Wir Alten haben sie nicht gut genug trainiert….

Das ist mein Eindruck, wenn ich all die Kommentare und redaktionellen Beiträge lese, die von Jungen geschrieben werden. Nein, diesmal geht es mir nicht um technische Details, sondern viel mehr um die Grundhaltung, die Angst, die individuelle Angst, angesteckt und krank zu werden. Verflüchtigt hat sich die Grundidee des Lockdowns, nämlich die Spitäler nicht zu überlasten. Geblieben ist die Angst vor dem Virus und der Ärger über die Alten, die das Chaos verursacht hätten. Was nicht stimmt, wir „Alten“ hatten ja auch nichts dazu zu sagen! Zudem: Das Virus ist für Junge ja nachgewiesenermassen nicht schlimm. Also was soll’s?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert