September 2022

Tagebuch vom 07.09. 2022

Ja, nun kann ich endlich wieder schreiben. Mein Blog ist wieder ganz, und ich habe Lust, mich zu äussern. Auch wenn die Welt nicht gerade nach mir giert. Meine Meinung ist die eines alten weissen Mannes, und die ist ja momentan nicht ausserordentlich gefragt.

Ich hebe mich mehr und mehr von der Wirklichkeit ab. Es ist eine sonderbare Welt, heute – natürlich gab es schon immer gute und schlechte Zeiten, aber die heute verbreitete Ansicht, dass es nicht mehr besser kommen werde, die unverrückbare Meinung, es gehe nur noch schlechter, der grassierende Pessimismus, das ist doch etwas ganz Spezielles, etwas, das ich eigentlich noch nie so erlebt habe.

Dabei holt uns ja nur ein, was wir schon lange gewusst haben: Die durch die weltweite Reiserei stark erhöhte Gefahr von Pandemien: Man hat schon jahrelang davor gewarnt: Niemand hat es richtig ernst genommen. Die Krise mit Russland: Man weiss seit langem, dass auf Putin kein Verlass ist, dass er ein Diktator und Kriegsmann ist – man hat keine Konsequenzen gezogen.

Die Gefahr der Globalisierung, die damit verbundene Abhängigkeit von Lieferketten, sei es in Produktion oder Transport: Man weiss es schon lange. Die viel zu billigen fossilen Ressourcen im Energiesektor: Man warnt seit bald Jahrzehnten davor.

Nun hat uns also die Wirklichkeit eingeholt. Das echte Leben. Nun wissen wir, dass es ohne Opfer nicht geht. Nicht mehr gehen wird. Dass wir die Chinesen nicht mehr einfach alles für uns zum günstigen Preis und ohne Rücksicht auf Menschenrechte, Klima und Energieressourcen produzieren lassen können. Dass es Unwägbarkeiten gibt, dass es nun sogar so weit geht, dass auch die Erfüllung unserer Grundbedürfnisse nicht mehr gewährleiteistet ist, dass nicht mehr nur Smartphones, Autos und Computergames betroffen sind, sondern eben auch Medikamente oder systemrelevante Elektronik nicht mehr sicher und immer  zur Verfügung stehen. Dass auch wir mit leeren Regalen leben lernen müssen.

Traurig stimmt mich auch, dass nun bereits im Voraus, ohne zwingende Notwendigkeit, die Preise für Grundbedürfnisse gigantisch anwachsen, und dies, obwohl noch gar kein Mangel besteht, dieser nur vorausgesagt wird, in der Presse mantrahaft wiederholt. Da spielen die alten Regeln der Märkte noch wunderbar…. Warum eigentlich? Weshalb tut die Politik nichts dagegen, dass wir Grosskonzernen Geld in den Rachen werfen für Produkte, die noch gar nicht Mangelware sind? Das ist doch grotesk! Die Gewinne der Grosshändler und Produzenten (siehe Gas aus Russland) explodieren, und wenn dann doch Mangel herrschen würde, blieben unsere Wohnungen trotz allem kalt! Jaja, die freie Marktwirtschaft….

Schön wäre es ja, wenn die Menschen daraus etwas lernen würden. Aber eben: Heute macht sich einfach Pessimismus breit, Ideenlosigkeit, vielleicht auch einfach Warten, bis der Sturm vorbei ist, und alles wieder wird wie vorher. Eine Illusion, das.

Denn daraus wird nichts werden. Wir müssen einsehen, dass wir an einer Zeitenwende stehen. Der Krieg in der Ukraine, so tragisch er für die betroffenen Menschen ist, ist dabei noch das Unproblematischste. Der ist nämlich ein Unding von gestern. Der wird einmal vorbei sein, wieviel Leid er auch verursacht hat und wird. Man wird hier zur Tagesordnung übergehen können, und die nächsten Menschenrechtsverletzungen werden folgen. Es wird auch in Somalia, Äthiopien, Syrien, Jemen weiter gekämpft, was bei uns Europäern ja vor allem mitleidvolles Schulterzucken auslöst, aber niemals das Erschrecken, das uns überfallen hat, als Putin mit seinen Drohungen ernst gemacht hat. Wieder einmal, wohlverstanden.

Die Welt ist schon lange nicht mehr in Ordnung, sie war es wohl gar nie. Wir haben einfach zwei Generationen lang in einer europäischen Blase gelebt, wir haben uns selbst verwöhnt, wir haben die Probleme vom Rest der Welt ausgeblendet und unsere eigenen exportiert. Wir haben behauptet, unsere Umwelt zu schonen, und dabei billig eingekauft und unseren Dreck ebenso billig in Afrika oder dem fernen Osten entsorgt. Auch unsere leeren Petflaschen schwimmen im Meer!

Das Klima ist uns heilig, sofern es nichts kostet: Wir legen AKWs und Kohlekraftwerke still, produzieren keinen Stahl mehr, schliessen Kohlegruben und sammeln den Abfall – und machen die Augen fest zu, wenn es darum geht, den Gründen unseres Wohlstandes nachzugehen: der (viel zu) billigen Energie, der Herkunft der  billigen Produkte, der billigen Entsorgung.

Wir fahren weiter Auto, beklagen uns über die hohen Benzinpreise, das immer noch weit unter seinem Wert verkauft wird, wenn man den damit angerichteten Schaden richtig berechnen würde. Wir fliegen wieder wie vor der Pandemie und beklagen lauthals den schlechten Service, und überlegen uns, das nächste Mal ein Elektroauto zu kaufen, um damit den ökologischen Schaden zu begrenzen, den unsere Mobilität anrichtet. Irrtum! Es soll alles sein wie früher, nur ein bisschen ökologischer, nach dem alten Prinzip soll es weitergehen. In Europa gräbt man eben nicht Übergangsmetalle aus, man baut und entsorgt keine Batterien, man produziert Elektrizität nicht aus Kohle oder Erdöl. Hier ist alles sauber.

Pessimismus, Abwarten, Augen zu und hoffen, dass «es» bald vorbei sein wird. Das verkaufen die Populisten, und sie verkaufen es gut.

Und nicht nur die Populisten. Auch die grüne Politik lebt vom Bewahren. Predigt Enthaltsamkeit, wo diese gar nicht mehr möglich ist, weil wir einfach zu Viele sind auf dieser Erde, weil wir zu vernetzt sind, weil es keine einsamen Inseln mehr gibt, wo man leben kann, wie einst die Steinzeitmenschen es taten. So wie es sich Herr Blocher, aber leider auch Herr Glättli, vorstellt.

Es sind neue Ideen gefragt, neuer Mut, aber auch neue Enthaltsamkeit.

Eine neue Politik, die nicht davon lebt, den Menschen leere Versprechungen zu machen, sondern ehrlich und mutig sagt, dass es nun Zeit ist, bisher Selbstverständliches in Frage zu stellen, den Menschen zu sagen, dass es ohne Verzicht nicht mehr gehen wird.

Ob die direkte Demokratie dazu in der Lage ist, wage ich leider zu bezweifeln.

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