Unser krankes Gesundheitswesen

Konzept Gesundheit 2023 

Kernsätze:

– Unser Gesundheitswesen (hier Gw genannt) braucht dringend eine generelle Überholung.       

– Das Gw ist ein starker Wirtschaftsmotor, Ist aber grundsätzlich falsch finanziert.

– Billiger wird das Gw nicht werden.

– Die heute geplanten Massnahmen sind inkonsequent und nichts als Kosmetik.

– Wer heute im Gw arbeitet, verlangt zu Recht normale Arbeitsbedingungen.

– Nur mit mehr Entlöhnung wird das Personalproblem nicht gelöst.

– Die Organisation des Gw ist zu verzettelt.

– Es fehlt im Gw eine effiziente, generelle und obligatorische Qualitätssicherung.

Problemstellung:

  • Das Gw in der Schweiz orientiert sich an Modellen aus dem frühen 20. Jh.
  • Die Krankenkassen haben sich aus örtlichen Selbsthilfeorganisationen entwickelt und sind heute zu Grosskonzernen geworden:
    • Ein Beispiel: Krankenkasse Wädenswil wird von der Krankenversicherung Winterthur übernommen, wird dann zur Wincare verselbstständigt, und schliesslich von der Sanitas übernommen.
  • Nie aber haben sich der Charakter und die Grundsätze der Krankenkasse Wädenswil, ein paar 1000 Versicherte, angepasst: Immer noch werden die grundversicherten Leistungen mit einem starren Versicherungs- und Prämiensystem nach dem Solidaritätsprinzip: „gleiche Prämien für alle“ finanziert, obwohl seit der Revision des KVG die Grundversicherung obligatorisch geworden ist und die Tarife für alle kassenpflichtigen medizinischen und paramedizinischen Leistungen längst festgeschrieben sind. 
    • Die Konkurrenz unter den Krankenkassen bringt unter diesen Umständen keine längerfristigen Vorteile für die Versicherten, sie verursacht nur einen enormen und teuren Verwaltungs- und Acquisitionsaufwand.
    • Ein eigentlich soziales Versicherungssystem wird so mit privatrechtlichen Prinzipien durcheinandergemischt. Es ist ein „Bastard“ entstanden, die unterschiedlichen Prämien sind nur durch äussere Umstände bedingt, wie demographische Besonderheiten oder harte Vergütungsoptionen, und nicht durch echten Wettbewerb.
    • Es ist nicht sinnvoll, zuerst die Prämien einzufordern und dann Prämienverbilligungen per Rückzahlung anzubieten. Das ist ein schwerfälliges und verwaltungsintensives Vorgehen.
  • Es wäre deshalb zu prüfen, ob die Finanzierung im Bereich Grundversicherung lohnabhängig, bzw. vermögensabhängig, zu konzipieren wäre. Es braucht hierzu nicht unbedingt eine staatliche Einheitskasse. Auch das sozial finanzierte UVG lässt verschiedene Anbieter zu.
  • Die Tarifgestaltung: einerseits Verhandlungstarife, anderseits Verordnungstarife (EDI), ist willkürlich und nicht zielführend, siehe z.B. neuer Arzttarif (Tardoc, von BR Berset 2022 zurückgewiesen). Man kann doch nicht Kostenträger und Leistungserbringer einen Tarif erarbeiten lassen, und ihn dann im letzten Moment ablehnen. Es ist dem BAG schlicht nicht möglich, in eigener Regie mit eigenen personellen Ressourcen einen medizinischen Tarif zu erarbeiten. Es braucht hierzu die Fachkräfte, Statistiken und Erfahrungen von Kostenträgern und Leistungserbringern. Immer wieder aber weiss es dann das BAG zu guter Letzt besser, und verschleppt die Einführung oft aus nicht nachvollziehbaren Motiven.
    • In der Ära Couchepin wurde die Tarifierung im Gw nach dem Tod von Vizedirektor Fritz Britt vom BSV auf das BAG übertragen. Dies ist mit ein Grund für viele Versäumnisse. Dem BAG fehlt nach wie vor die erforderliche Infrastruktur und die personelle Kompetenz. Sie konnte nach dem ebenfalls frühen Tod von Vizedirektor Hans Heinrich Brunner im Rahmen des BAG nie etabliert werden.

Wirtschaftliche Einordnung:

Das Gw ist ein starker wirtschaftlicher Motor. Rund 500’000 Arbeitsplätze bietet das Gw in CH an. (BFS, 2020). Gehen wir von einem durchschnittlichen Jahreslohn von 85’000 Franken aus, sind das etwa 40 Milliarden, weit über 40% der Gw-Gesamtausgaben, die so jährlich in Umlauf kommen. Das ist gewaltig, läuft aber zu einem zu grossen Teil auf dem Buckel des Mittelstandes.

  • Es ist nicht damit zu rechnen, dass das Gw billiger wird. Alle Massnahmen, die gegenwärtig zur Debatte stehen, sind nichts als Tropfen auf den heissen Stein. Man streut dem Volk damit Sand in die Augen. Kosmetik!
    • Beispiel Labortarife: Mit der letztjährigen 10%igen Senkung der Labortarife der Analysenliste können, bei einem Gesamtumsatz von etwa 2 Mia, so um die 200 Mio eingespart werden, wenn überhaupt. Die eidg. Analysenliste gilt nämlich keineswegs für alle Labors.
    • Beispiel geplante Senkung der Medikamentenpreise 2022: Ob diese Senkung ÜBERHAUPT einen Einfluss auf die Vergütung der Medikamente hat, bezweifeln sowohl santésuisse als auch der Konsumentenschutz.
    • Es kann nicht sein, dass die Spitäler die zunehmend ambulanten Behandlungen auf die Patientenversicherungen abwälzen. Es muss im gesamten Spitalbereich mindestens beim 50/50 (Staat/Kassen) bleiben, denn das ist momentan der einzige einkommensabhängige Beitrag an die Gw-Kosten.
  • Bei der Leistungsvergütung herrscht ein völliges Durcheinander. 26 kantonale Gesetzgebungen regeln die Spitalfinanzierung, eidg. Verordnungstarife die Medikamentenpreise und Laborleistungen und die Liste der Mittel und Gegenstände. Verhandlungstarife, auch zum Teil noch kantonal angepasst, regeln die ambulanten Leistungen. Hinzu kommen neu die eidg. redigierten Fallpauschalen für stationäre (und ev. bald auch teilweise für ambulante) Leistungen.

Das Personalproblem:

  • Wir müssen der Tatsache ins Auge schauen: Wer heute im Gesundheitswesen arbeitet, ist ein Dienstleistender mit heutigen Ansprüchen an das Arbeitsleben. Klar stehen Empathie und Einsatzfreudigkeit immer noch hoch im Kurs. Es ist eine spezielle Gabe der Menschen, die mit Patienten arbeiten, dass sie sich schnell und intensiv auf im Minuten- oder Viertelstundentakt wechselnde Leidende einstellen können. 
    • Sie verlangen aber sicher zu Recht ein normales Leben neben der Arbeit: einen Arbeitstag, der auch noch ein Privatleben zulässt, ein normales Familienleben, vorausplanbare Arbeitseinsätze, das Recht auf Kinderbetreuung. Mit Geld allein ist es also nicht getan, mit in die Hände klatschen sowieso nicht.
    • Der heutige 3-Schichten-Betrieb im Spital reicht nicht mehr, es werden vier Schichten werden. Das heisst: Viel mehr Geld vor allem im Pflegebereich.
    • Assistenz- und Oberärzten werden oft immer noch mehr als 60-Stundenwochen zugemutet, oft wochenlang auch Nachtdienst. Dies bei einer Bezahlung, über die ein gleichaltriger Banker lachen würde.
  • Wir haben einen akuten Pflegenotstand. Der kann nur durch massive Verbesserung der Arbeitsbedingungen behoben werden.
  • Vom Mittelalter bis in die späte Neuzeit war die Pflege von kranken Menschen Aufgabe aufopfernder Männer und Frauen, oft Mönchen und Nonnen oder Diakonissinnen. Und dazu natürlich der vielbeschworene charismatische Landarzt.
  • Für medizinische Handlungen waren früher neben Ärzten mit meist universitär-religiösem Hintergrund auch Bader, Wundärzte, Hebammen, Wurzler, Apotheker etc. verantwortlich. Erst 1883 führte Deutschland das medizinische Staatsexamen ein. 
    • Den Arztberuf im heutigen Sinn gibt es also erst seit etwa 150 Jahren.
    • Vorher wurden Ärzte auch oft an Arztschulen mit uneinheitlichen Behandlungsdoktrinen ausgebildet. Und selbst an renommierten Universitäten wurden zweifelhafte Behandlungsmethoden gelehrt.
  • Im 19. Und frühen 20. Jh. wurde der Arzt und bald auch die Ärztin entsprechend der damalig streng hierarchischen Organisation im Gesundheitswesen zu alleinigen Schaltstelle für Diagnose, Therapie und Nachsorge. Alle anderen medizinischen Fachpersonen wurden dem Arzt, der Ärztin, unterstellet.
    • Es entstand der Mythos der „Götter in Weiss“.
    • Diese Situation liegt unserem KVG immer noch zugrunde, sind doch die Ärztinnen und Ärzte nach wie vor die Schaltstellen für jegliche medizinische Aktion.
  • Doch die Situation hast sich grundlegend gewandelt:
    • Viele medizinische Fachberufe, vor allem die Pflegeberufe, aber auch medizinisch-technische Assistenzberufe, sind in der Ausbildung im tertiären Sektor angekommen. 
    • Sie verlangen zu Recht nun entsprechende Kompetenzzuteilung und Bezahlung, wie es 2022 den Psychologinnen und Psychologen zugestanden wurde.
    • Das bedeutet nochmals: Kürzere Arbeitszeiten, bessere Entlöhnung, mehr Personal – kurz: Mehrkosten. 
  • Die Politik kümmert sich zu wenig um diese grundsätzliche Problematik. Immer mehr Berufe drängen in die Grundversicherung, immer mit dem Argument, dass es dann zweckmässiger, wirksamer und wirtschaftlicher werden solle. Das stimmt, nur: Es wird trotzdem mehr kosten. In Anbetracht der Tatsache, dass wir mit den Prämien am Limit sind, bedeutet das: Ein neues Finanzierungsmodell muss her, denn:
    • Was z.B. gegen des Ausbau des Nationalstrassennetzes vorgebracht wird, gilt auch hier: Mehr Angebot gleich mehr Nachfrage. Auch wenn mit den Massnahmen primär das jetzige, überlastete System entlastet würde: Längerfristig wird das erhöhte Leistungsangebot zu mehr Leistungsbezug führen.

Vorschläge und Varianten:

  • Auseinanderhalten von Krankheit und Zustand:
    • Zustand: z.B. Schwangerschaft, Alter & Demenz, Langzeittherapie.
    • Krankheit: akut oder chronisch Leidende (= Patienten).
  • Auseinanderhalten der Leistungen:
    • Z.B. Notfall und Akutspital versus hochspezialisiertes Unispital, Einführung von Gesundheitszentren auf Stufe öffentliches Spital.
    • Abspaltung der Alterspflege vom Krankenkassensystem.
    • (Noch)bessere Integration der Spitex ins Pflegesystem (Aufgaben und Kompetenzen).
    • Vermeiden von Konkurrenzdenken der Spitäler unter sich.
    • Sehr teure Behandlungen sollten durch einen Pool bezahlt werden, dem ein Expertengremium vorsteht, das die Fälle prüft und Entscheidungskompetenz hat.
    • Es ist nicht zielführend, wenn jede Kasse ihre Vertrauensärzte hat, die selbstständig entscheiden, warum wem was bezahlt wird.

Was ist (wäre) zu tun:

  • Vereinheitlichung des gesamten Gesundheitssystems in der Schweiz, primär durch eine Vereinheitlichung der kantonalen Gesetzgebungen unter dem Dach des zu revidierenden KVG mit den Zielen:
    • Etablierung eines neuen Prämienzahlsystems z.B. analog des UVG.
    • Ev. Einführung einer Einheitskasse für die Grundversicherung.
    • Revision der Tarife mit klaren Vorgaben des Bundes, insbesondere unter Berücksichtigung vor allem auch der Tarife für Psychiatrie, Pädiatrie und Allgemeinmedizin, sowie der Qualität der erbrachten Leistungen.
    • Neubeurteilung der medizinischen Leistungen durch neue Kompetenzzuteilungen und Abrechnungssysteme (Pflegepersonal, Apotheken, Spitex, Geburtshilfe…). Dies vor allem auch im Bereich Nachsorge und Präventivmedizin (z.B. Impfungen).
    • Der Arzt und die Ärztin sind primär für die Patienten da, also für Diagnose, Therapie und Anordnung bzw. Organisation der Nachbehandlung. Hier sollen die Krankenkassen greifen.
    • Ein Gesundheitskassensystem soll die Abrechnung der Pflege ausserhalb des klinischen Betriebes übernehmen, insbesondere die der Alters- und Demenzpflege.
    • Etablierung individueller Spitalleistungskataloge aufgrund eines Qualitätssicherungssystems; Regulierung des Angebots der einzelnen Kliniken auf Gesetzesstufe.
    • Einführung eines generellen, obligatorischen Qualitätssicherungssystems.

Stolpersteine:

  • Allen voran: Die GDK, die kantonale Hoheiten sorgfältig hütet.
  • Die Spezialärzte, die ihre zum Teil exorbitanten Tarife behalten wollen.
  • Unser (einzigartiges) System der Allgemeinpraxen, das aus Zeiten stammt, wo man noch mit Ross und Wagen herumgefahren ist:
    • Hierzulande ist es üblich, dass eine Arztpraxis gleichzeitig auch ein Labor, ein Röntgeninstitut und eine Apotheke ist. Das Üble daran ist, dass die Vergütungen der allgemein tätigen Mediziner im Behandlungsbereich landesweit so schlecht sind, dass sie auf die erwähnten Zusatzeinnahmen angewiesen sind. Das ist ein eidgenössischer Spezialfall.
  • Die Medizin wehrt sich seit Jahren gegen ein umfassendes Qualitätsmanagementsystem.
  • Unser System erlaubt den Ausbau der Grundversorgung ad libitum. Rufe nach der Zweckmässigkeit neuer Behandlungen werden regelmässig abgeschmettert mit der Begründung „Zweiklassenmedizin vermeiden“. Klassenmedizin ist eben ein Killerargument.
    • Was machbar ist, wird so allzu schnell zum Notwendigen!

Fazit:

  • Unser Gesundheitswesen sollte unter den drei Maximen WWZ: Wirksamkeit, Wirtschaftlichkeit, Zweckmässigkeit laufen. Es ist aber bestenfalls wirksam. Zu viele medizinische Leistungen sind, allgemein und im Einzelfall, weder wirtschaftlich noch zweckmässig. Es muss deshalb ein Sparprogramm aufgegleist werden.
  • Es ist aber unmöglich, in Zukunft soviel Leistung einzusparen, dass eine signifikante Senkung der Prämien im gegenwärtigen System möglich wird. Abhilfe schaffen könnte – neben einem rigorosen Qualitätsmanagement und einer ebenso rigorosen Kostenkontrolle – ein einkommensabhängiges Prämiensystem. 
  • Der verwaltungsintensive Konkurrenzkampf unter den Kranklenkassen hat nichts bewirkt, er ist abzuschaffen: Der Ausgleichsfonds muss deutlich besser greifen, eventualiter ist auch über eine Neuauflage einer Einheitskasse für die Grundversicherung zu diskutieren.
  • Der Bund muss im Bereich Organisation, Finanzierung und Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen den Lead übernehmen und grössere Kompetenzen erhalten.
    • Dies ist die Aufgabe des BAG.
    • Die Tarifhoheit muss jedoch vom BAG wieder zum BSV (rück)transferiert werden, da dort die nötige versicherungstechnische Fachkompetenz vorhanden ist.

HPS, im Februar 2023

Ich begründe die obigen Einschätzungen auf meine Erfahrungen als:

  • Präsident des Schweizerischen Verbandes der Leiter medizinischer Laboratorien FAMH von 1992 bis 2000.
  • seinerzeit: 
    • Mitglied der Eidg. Arzneimittelkommission
    • Mitglied der (BSV)-Kommission Gesamtrevision der eidg. Analysenliste (GRAL)
    • Präsident der Kommission Revision der eidg. Analysenliste des BAG (REVAL)
    • Vorstandsmitglied der Schweizerischen Union für Labormedizin (SULM)
    • Mitglied der AG Akkreditierung medizinischer Laboratorien der metas
    • Mitglied der Kommission Weiterbildung zum Laborleiter SAMW
  • Inhaber und Leiter des medizinisch-chemischen Labors Dr. Siegrist AG in Biel bis 1999.

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