Wahlen 23

Tagebuch 23 10 23

Habe mich wieder einmal eingegeben. Das Schweigen und das Versprechen, mich nicht mehr aufzuregen, gebrochen. Diesmal zwar nur in meiner Bubble. 

Dennoch, die Worte wie Triumph, gewaltiger Sieg, Rechtsrutsch und so weiter, haben mich alarmiert. Die vielen Analysen, was nun anders werden wird, genervt. 

Im Grunde wird nichts anders. Die SVP hat zwar ein wenig zugelegt, aber auch ohne diesen grösseren Wähleranteil wäre es geblieben, wie es ist: Die Themenführerschaft (fürchterlicher Ausdruck!) bleibt bei der SVP. Denn kaum machen die anderen Parteien den Mund auf, schreit die SVP schon. Und statt diese Schreie zu ignorieren, fallen die andern Parteien prompt darauf rein. Und statt ihre eigenen Ideen zu propagieren, antworten sie auf die Provokationen der SVP.

Das ist ein Teufelskreis, den gibt es seit Blochers ersten Auftritten, einer meiner Wahlkommentare in der «Republik»:

Ich habe schon zu Zeiten der grossen Arenadiskussionen gesagt: Das Problem ist nicht der Blocher, das Problem sind seine ihm nicht gewachsenen Gegner. Gab es am Anfang noch starke Persönlichkeiten wie Bodenmann und Steinegger, die dem zugegebenermassen genialen Politiker Blocher rhetorisch gewachsen waren, versuchten ihre Nachfolger meist vergeblich, diese Bastion zu knacken. Und so wuchs die SVP. Was ich im Artikel vermisse, ist eine Analyse der SVP-Wählerschaft. Diese ist nämlich sehr heterogen. Ein grosser Teil der Wählenden ist keineswegs rechtsnational oder konservativ, sondern wählt mangels Alternativen diese vermeintlich helvetische Einheitspartei, die vieles verspricht, aber nichts hält. Reine Nostalgie ist das, ein Nachtrauern. Es gibt eben keine gutmütige, bäuerliche BGB mehr. Diese Wählerschaft sieht keine Alternative in den andern grossen Parteien. Und diese Toleranz, Ratlosigkeit und Gutmütigkeit nützen die Granden der SVP seit 30 Jahren schamlos aus. Wir Andern müssen diesen Menschen eine neue Heimat bieten, auf ihre Ängste bezüglich allem Fremden, seien es Asylbewerber, Migranten oder auch einfach die EU, eingehen. Die SVP muss von unten geschwächt werden. Sie einfach aus der Regierung zu werfen, bringt es nicht. Man betrachte nur den grünen Alpenbogen nach den Wahlen! Schon das zeigt, dass wir es mit einem ganz anderen Phänomen zu tun haben, als es die umliegenden Länder mit ihren Rechtsaussenparteien haben, deren Wählerschaft oft zu einem grossen Teil aus unzufriedenen Wutbürgern besteht. Denn ein grosser Teil unserer SVP-Wählenden würden nie ein Gilet jaune anziehen und auf die Strasse gehen!

Nun aber hat die Aktualität die Überlegungen bezüglich der Wahlanalysen überholt: Wieviel nach rechts gerückt worden ist, und ob die Mitte die FDP überholt hat: Alle diese Analysen und Kommentare, alle Spekulationen, Luftschlösser und Träume in der montäglichen Presse und den sonntäglichen Talkrunden (oder umgekehrt) wurden am heute Abend durch einen Fehler im Bundesamt für Statistik (BfS) ad absurdum geführt. Eine Posse vielleicht, ja, aber sie lässt tief blicken: Weil die Mitte die FDP um ein paar Prozentzehntel überholt haben sollte, gab es bereits am Wahlsonntag Spekulationen, ob nun ein FDP-Bundesrat durch eine Mitteperson ersetzt werden sollte, und wenn ja, wann. Und dann, am Mittwoch: Zurück auf Feld eins. Die FDP liegt, trotz neuerlichen Verlusten, immer noch ein halbes Prozent vor der erstarkten Mitte. Die Statistiker haben sich verrechnet. Auch der Rechtsrutsch ist nicht so schlimm: Die SVP legt «nur» 2.6 statt 3.2% zu. Die SP dagegen schneidet besser ab als zuerst gemeldet, das Desaster der Grünen ist etwas milder ausgefallen.

Dazu muss man natürlich anmerken, dass in der Schweiz seit Jahren einstellige Prozentzahlen im unteren Bereich als Links- oder Rechtsrutsche empfunden werden. Das ist nicht das eigentliche Problem. 

Das Problem ist eher, dass man als Politiker oder Journalist in unserer schnelllebigen Zeit scheinbar gezwungen ist, das Kommunikationsräderwerk blitzartig in Betrieb zu setzen, noch bevor die Qualitätskontrolle die Statistiken bestätigt hat. Was nach knapp 48 Stunden geschehen ist. Auch der Fehler wurde erkannt und behoben. Aber eben: Alles wurde anders. Hunderte Journalisten, Kommentatoren und Politiker rieben sich die Augen und fühlten sich veräppelt. Das hat harsche Reaktionen provoziert, begreiflicherweise! Die Schuldigen sind bekannt: Das BfS und seine Mitarbeiter. Es wäre aber schön, wir würden auch mal über unsere Ansprüche nachdenken: Muss immer alles so schnell gehen? Muss man sich wirklich immer sofort dezidiert zu Fragen äussern, die auf Aussagen im Zehntelprozentbereich basieren? Wo führt das hin? Ich weiss es auch nicht und meine Meinung ist noch nicht gemacht. Aber Nachdenken ist ja nicht verboten!

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